Montag, 1. Mai 2017

Der barmherzige Blick

Das Bild vor seiner Segnung. Noch brennen keine Kerzen.
Mit seinem Werk "Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst" machte der Kunsthistoriker Hans Belting 1990 auf den fundamentalen Unterschied zwischen dem religiösen Bild und dem Kunstwerk aufmerksam. Das religiöse Bild ist strikt von seiner Funktion her zu sehen: Es verweist den Beter auf das, was es darstellt, es ist ein Hilfsmittel für die Verehrung von Heiligen und der Anbetung Gottes. Als solches spielt es auch seine Rolle in der Liturgie und der Frömmigkeitspraxis. Während religiöse Bilder also innerhalb eines bestimmten funktionalen Zusammenhangs stehen, befinden sich Kunstwerke gerade außerhalb dieses Zusammenhangs. Natürlich lässt sich aus einem religiösen Bild ein Kunstwerk machen - und zwar, indem man es aus seinem ursprünglichen Zusammenhang entfernt. Wer das Berliner Bode-Museum oder die Uffizien in Florenz besucht, sieht dort zahlreiche Bilder, die eigentlich "aus dem Zusammenhang gerissen" sind.
Es ist wahrscheinlich das wesentliche Kennzeichen der neuzeitlichen Kunst, dass hier die religiöse Funktion des Bildes ihre Selbstverständlichkeit verliert. Die Kunst der Moderne strebt schließlich so sehr nach Autonomie, dass es fast ausgeschlossen scheint, dass ein Künstler sich in seinem Schaffen einer religiösen Funktion unterwirft.
Von daher ist Michael Triegels Vorhaben, ein Andachtsbild zu malen, wirklich bemerkenswert. Michael Triegel hat während der Arbeit an diesem Auftrag lange gezögert, seinem Barmherzigen Jesus ein Gesicht gegeben. Doch das Gesicht ist für die Bildfunktion fundamental: Der Beter will schließlich mit dem Dargestellten in eine Beziehung treten. Das Bild dient als Medium für die Interaktion zwischen dem Beter und dem abgebildeten Jesus. Im Fall des speziellen Sujets geht es um den barmherzigen Blick Jesu, der den Beter treffen soll - und umgekehrt: der Beter soll Jesus anblicken, möglicherweise gar mitleidend angesichts der Leiden, die Jesus für ihn auf sich genommen hat. Die Beziehung ist eine Beziehung des Leidens und der Liebe.
Gleichzeitig ist Michael Triegel jedoch der Gedanke wichtig, dass die Abbildung nicht mit dem Abgebildeten verwechselt werden darf. Die platonische Unterscheidung zwischen Abbild und Urbild war in den bildtheologischen Kontroversen der Christentumsgeschichte herangezogen worden, um die christliche Bilderverehrung zu rechtfertigen und sie von der heidnischen Idolatrie abzusetzen. Triegel hat darum das Antlitz Christi in seinem Würzburger Andachtsbild auf Goldgrund gemalt und es damit sowohl überhöht als auch relativiert. Zunächst weckt diese Darstellungsweise Assoziationen an das leuchtende Antlitz des verklärten Christus:
„Sechs Tage danach nahm Jesus Petrus, Jakobus und dessen Bruder Johannes beiseite und führte sie auf einen hohen Berg. Und er wurde vor ihren Augen verwandelt; sein Gesicht leuchtete wie die Sonne und seine Kleider wurden blendend weiß wie das Licht“ (Mt 17, 1-2).
Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht. Petrus will das Geschehen festhalten, aber es gelingt ihm nicht. Mit der Überhöhung durch den Goldgrund geht tatsächlich auch eine Relativierung einher. Denn der Effekt, der auf Reproduktionen nicht erkennbar ist, aber dem Betrachter vor Ort sofort auffällt, ist folgender: Je nachdem, von wo aus man das Bild betrachtet, sieht sein Gesicht anders aus. Manchmal ist es regelrecht überstrahlt und kaum erkennbar, manchmal kommen die Konturen klar zum Ausdruck. Gleichzeitig ist es, wie viele historische Andachtsbilder, so gemalt, dass es jeden Betrachter, unabhängig von seinem Standpunkt, anzublicken scheint.
Das erinnert an Nikolaus Cusanus' Schrift "De visione Dei". Anhand der Christusikone, die Cusanus den Mönchen vom Tegernsee schickt, begreifen sie, dass Gott jeden von ihnen anblickt, auch wenn sie sich an unterschiedlichen Positionen befinden und sich in verschiedene Richtungen bewegen. Der Theologe Johannes Hoff schreibt dazu:
"Das, was ich (z. B. im gemalten Blick des Allsehenden) sehe, ist mir nah; denn es blickt mich so an wie ich es anblicke. Doch es blickt auch andere an, und das untergräbt die Illusion, es füge sich meinem subjektiven Verstehens- und Erwartungshorizont. Gott ist mir zugleich näher und ferner als ich mir selbst. Darin liegt das Rätsel seines Blicks."
Vielleicht ist Michael Triegel aber doch noch etwas "barmherziger" mit dem Betrachter und lässt ihm etwas von seiner Subjektivität. Weil das Gesicht sich nämlich verändert, wenn ich mich vor ihm bewege, ist doch jeder Blick auf ihn von meinem subjektiven Standpunkt bestimmt.
Derart reflexive Gedanken muss sich der Beter aber natürlich nicht machen. Er kann Jesus auch einfach voll Vertrauen anblicken und sich von ihm anblicken lassen, kann getrost seine Kerze anzünden und das Knie beugen. Ich habe es selber ausprobiert. Es funktioniert!

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