Samstag, 24. Februar 2018

Die Wahrheit liegt nicht unbedingt in der Mitte

Bei den kirchlichen Lockerungsübungen in Moral und Sakramentendisziplin, die wir in letzter Zeit erleben - aber auch in anderen theologischen Debatten - ist häufig zu hören, der eigene Standpunkt werde wohl von zwei Seiten kritisiert werden - von denjenigen, denen er "nicht weit genug" gehe, und von denjenigen, denen er "zu weit" gehe. Welche Funktion hat diese Feststellung?
Sie dient dem Sprecher dazu, sich gleichsam in einem sicheren Mittelfeld zu positionieren. Er sagt den Zuhörern oder Lesern: Seht her, ich vermeide die Extreme. Ich werde von beiden Seiten kritisiert. Und liegt die Wahrheit nicht stets in der Mitte?
Deswegen ist diese Sprachfigur heute bei Bischöfen so beliebt, heißt es doch oft bei den aussichtsreichsten Kandidaten für dieses Amt, sie seien ein "Mann der Mitte".
In einer Situation der zunehmenden innerkirchlichen Polarisierung mag das als sichere Position erscheinen. Sie maßt sich sogar auch noch etwas Mutiges an, weil man doch bereit sei, für gleich zwei Gruppen "unbequem" zu sein. Gleichzeitig spekuliert sie aber doch darauf, dass sich - entsprechend der Gauß'schen Normalverteilung - die meisten Adressaten ebenfalls im Mittelfeld befinden, man also letztlich die freundlich nickende Mehrheit hinter sich hat.
Abgesehen von der Frage, wodurch eigentlich die Endpunkte eines solchen Kontinuums definiert werden, und abgesehen von der Tatsache, dass sie sich offensichtlich auch verschieben können, sodass man die eigene Position irgendwann weiter korrigieren muss, um immer noch in der Mitte zu liegen: Das eigentliche Problem ist, dass eine Aussage nicht dadurch wahr wird, dass sie in der Mitte zwischen zwei Extremen liegt.
Wenn bei einer Parteiveranstaltung hundert Personen anwesend sind, und ein Beobachter die Anzahl auf zweihundert und der andere auf dreihundert schätzt, dann liegt trotzdem der dritte Beobachter falsch, der die mittlere These vertritt, es seien zweihundertfünfzig Besucher im Raum.
Benedikt Göcke hat gerade in der Herder Korrepondenz an einen interessanten Satz des Philosophen Wolfgang Cramer erinnert, dem zufolge Argumente nicht "durch das Faktum einer allgemein verbreiteten Denkweise widerlegt werden" könnten. Ansonsten könne man "die Lösung philosophischer Fragen den Instituten für Meinungsforschung übergeben."
In der Religion und in der Moral geht es um Wahrheit. Und die lässt sich nicht per Mehrheitsbeschluss oder Normalverteilung finden.
Aber vielleicht ist das ja jetzt schon eine Extremposition...?

Dienstag, 20. Februar 2018

Totaler Gehorsam bereitet psychische Schwierigkeiten

Das Erste Vatikanische Konzil
Der Papst hat den Rücktritt von Bischof Peter Ebere Okpaleke von Ahiara in Nigeria angenommen und einen Nachbarbischof als Apostolischen Administrator eingesetzt - so lautete gestern die dünne Mitteilung im Bulletin des vatikanischen Pressesaals. Dort werden nahezu jeden Tag "Rücktritte und Ernennungen" mitgeteilt. Doch diese spezielle Meldung hat es in sich. Ich habe im vergangenen Sommer für die Herder Korrespondenz den Fall der Diözese Ahiara kommentiert.
Papst Benedikt XVI. hatte Okpaleke 2012 zum Bischof von Ahiara im Süden Nigerias ernannt. Die Bevölkerung dort gehört zur Ethnie der Mbaise. Das Bistum im Bundesstaat Imo hat einen Katholikenanteil von 77 Prozent und ist damit eine der katholischsten Gegenden Nigerias. Bischof Okpaleke stammte allerdings aus dem benachbarten Bistum Awka im Bundesstaat Anambra und war kein Mbaise. Die Ernennung eines auswärtigen Bischofs wurde von einem Großteil des Klerus und der Gläubigen schlecht aufgenommen. Es kam zu heftigen Protesten. Demonstranten blockierten die Kathedrale, sodass schon die Bischofsweihe im benachbarten Erzbistum Owerri stattfinden musste. Seitdem war es dem Bischof nicht gelungen, seine neue Diözese in Besitz zu nehmen.
Im Sommer 2017 hatte sich schließlich Franziskus des Problems angenommen und diejenigen, die hinter dem Bischof stehen, sowie die gegnerische Partei eingeladen, jeweils fünf Vertreter für eine Audienz in Rom zu entsenden. Doch die Gegner blieben zuhause; nur die Seite des Bischofs war angereist. Ihnen teilte Franziskus seine Entscheidung in dem Konflikt mit: Alle Kleriker der Diözese mussten dem Papst innerhalb eines Monats einen persönlichen Brief schreiben. Darin sollten sie ihn um Verzeihung bitten, ihren "totalen Gehorsam" versprechen und zusagen, jeden Bischof zu akzeptieren, den der Papst sendet und ernennt. Wer das nicht tue, verliere seine Stelle verlieren und werde a divinis suspendiert.
Dieses Vorgehen, so schrieb ich damals, zeuge von einem Amtsverständnis, das ganz dem Ersten Vatikanischen Konzil entspreche. Das war natürlich frech - ich wollte damit ein bisschen den Eindruck stören, Franziskus sei der Papst des Zweiten Vatikanischen Konzils.
"Spätestens jetzt muss jedem klar sein: Wenn es Papst Franziskus auf etwas ankommt, ann wird er 'totalen Gehorsam' fordern. Er weiß ganz genau, was das Erste Vatikanische Konzil in seiner dogmatischen Konstitution 'Pastor Aeternus' gelehrt hat: dass der Nachfolger Petri die 'Vollgewalt' innehat, 'die gesamte Kirche zu weiden, zu regieren und zu leiten' und dass die Gläubigen und die Hirten ihm 'zu hierarchischer Unterordnung und zu wahrem Gehorsam verpflichtet' sind, und zwar 'nicht nur in Fragen des Glaubens und des sittlichen Lebens, sondern auch in allem, was zur Disziplin und zur Regierung der Kirche auf dem ganzen Erdenrund gehört'. Papst Franziskus ist der erste Papst, der 'Pastor Aeternus' in einer Ansprache zitiert hat. Als es bei den beiden römischen Familiensynoden 2014 und 2015 zu unerwarteten Widerständen vonseiten einiger Bischöfe und Kardinäle gegen die Agenda von Papst Franziskus kam, sagte er in seiner Ansprache zum fünfzigjährigen Bestehen der Bischofssynode, der 'synodale Weg' gipfele 'im Hören auf den Bischof von Rom, der gerufen ist, als 'Hirte und Lehrer aller Christen' zu sprechen'. Das war ein gezielt eingesetztes direktes Zitat aus 'Pastor Aeternus'. Der Papst kann sich beraten lassen, er kann auf Gläubige und Bischöfe hören. Aber am Ende haben sie auf ihn zu hören."
Die Meldung aus dem Bulletin des Vatikans zeigt: Die Strategie des "totalen Gehorsams" hat offensichtlich nicht so richtig funktioniert. Vatican News berichtete dann gestern Nachmittag, es seien tatsächlich zahlreiche Briefe von Klerikern bei Franziskus eingetroffen, in denen auch viele ihre Reue zum Ausdruck gebracht, jedoch auch angemerkt hätten, "dass eine Zusammenarbeit mit Okpaleke nach den mittlerweile fünf Jahren des Konfliktes 'psychologische Schwierigkeiten' mit sich bringe."
Was lernen wir daraus?