Freitag, 4. August 2017

Christoph Schlingensief und Richard Wagners Ersatzliturgie

Vor einiger Zeit hielt ich in Bayreuth einen Vortrag über Richard Wagner, Christoph Schlingensief und die katholische Liturgie. Meine Einlassungen fußten auf einer allgemeinen Sympathie für das Theater und die Oper, gelegentlichen Besuchen der Berliner Volksbühne in den Jahren nach der Jahrtausendwende und einem auch beruflichen Interesse am christlichen Gottesdienst (immerhin war ich einige Jahre Angestellter des Deutschen Liturgischen Institutes in Trier). Die Tagung „Art of Wagnis. Christoph Schlingensief’s Crossing of Wagner and Africa” fand im "Iwalewahaus" statt, dem Afrikazentrum der Universität Bayreuth. Unter den Musik- und Theaterwissenschaftlern, Ethnologen und Kulturwissenschaftlern, die bei der Tagung sprachen, war ich der einzige Refent mit theologischem Hintergrund. Eine Dokumentation der Tagung ist jetzt im "Verlag für moderne Kunst" erschienen (248 S., 35,00 €).
Ein wichtiges Beispiel für das Verhältnis von Wagner und Schlingensief zur Liturgie ist der "Parsifal", den Schlingensief 2004 in Bayreuth inszeniert. Im "Parsifal" nutzt Richard die traditionelle liturgische Symbolik und verarbeitet die mittelalterliche Eucharistiefrömmigkeit, die Transsubstantiationslehre, den katholischen Opferbegriff. Er tut dies, um sein "Gesamtkunstwerk" mit einem eigenen religiösen Anspruch zu erschaffen. Dieses Gesamtkunstwerk erhebt laut Wagners eigenen Worten aus seiner Schrift "Kunst und Religion" von 1880 den Anspruch, die Funktion der traditionellen Religion in das säkulare Zeitalter herüberzuretten. Doch gibt es in Wagners Ersatzliturgie keinen Gott; Erlösung heißt hier ausschließlich Selbst-Erlösung. Mit diesem Anspruch Wagners setzt Schlingensief sich in seiner Inszenierung des "Parsifal" und in anderen Werken auseinander. Die Versatzstücke katholischer Liturgie und Frömmigkeit im "Parsifal" kombiniert Schlingensief in seiner Inszenierung mit den Symbolen und Heiligtümern zahlreicher Kulturen und den Elementen seiner Privatmythologie. Was das Ganze mit Afrika zu tun hat, lässt sich in den Beiträgen des Bandes nachlesen, den Fabian Lehmann, Nadine Siegert und Ulf Vierke herausgegeben haben.


Mittwoch, 2. August 2017

Fundstücke von der Documenta: Fifty Shades of Grey, Marienhymnen, das Weltgericht und politisch korrekter Craft-Beer-Quatsch

Am 19. Mai 1933 verbrannten die Nazis auf dem Kasseler Friedrichsplatz 2000 Bücher. Für die 14. Documenta hat die argentinische Künstlerin Marta Minujín dort einen "Parthenon der verbotenen Bücher" errichtet. Das monumentale, aber gleichzeitig ephemere Werk verbindet die Kasseler Ausstellung mit Athen, dem zweiten Standort der Documenta in diesem Jahr. An der Gerüstkonstruktion sind mit Plastikfolie zehntausende Bücher angebracht, die irgendwo auf der Welt verboten sind oder einmal verboten waren. Dazu gehören, wie ich feststellen konnte, offenbar auch der Bestseller "Fifty Shades of Grey" und "Grimms Märchen".
Nicht zum antiken, sondern zum christlichen Griechenland verläuft die Verbindung in der Arbeit "Byzantion" von Romuald Karmakar. In einem abgedunkelten Raum ist ein Video zu sehen, in dem orthodoxe Kleriker den Marienhymnus "Agni Parthene" singen. Auffällig, mit welch offenkundiger Andacht die zahlenreichen Liebhaber zeitgenössischer Kunst den fremdartigen Klängen des griechischen Kirchengesangs lauschen.
Was hat Martin Luther mit Paul Klee und Walter Benjamin zu tun? Eine Serie von Arbeiten der US-amerikanischen Künstlerin R.H. Quaytman widmet sich dem Motiv des "Angelus Novus". Im Jahr 1920 hatte Klee das Bild eines vogelartigen Geschöpfes mit einem übergroßen Kopf, weit aufgerissenen Augen und mehr wie vor Schreck als zum Flug erhobenen Schwingen gemalt. Das Bild fand sich seit 1921 im Besitz von Walter Benjamin, der in seinen Texten mehrfach auf es bezugnahm. In seinem Essay "Über den Begriff der Geschichte" wird diese Gestalt schließlich zum Sinnbild für den "Engel der Geschichte". R.H. Quaytman fand im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Klees Arbeit heraus, dass es auf einen älteren Druck eines bekannten Martin-Luther-Porträts von Cranach aufgebracht wurde. Die in Kassel gezeigten Arbeiten legen diesen Hintergrund offen, überlassen eine Deutung dieser Tatsache aber dem Betrachter. Benjamin schreibt in seinem geschichtsphilosophischen Aufsatz über die Engel-Figur: "Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."
Auf dem Kasseler Königsplatz hat der aus Nigeria stammende und in den USA lebenden Künstler Olu Oguibe einen sechzehn Meter hohen Obelisken aufgestellt. Auf der Basis findet sich die Inschrift "Ich war Fremdling und ihr habt mich beherbergt" (Matthäus 25,35) in deutscher, englischer, türkischer und arabischer Sprache. Liest man das Zitat aus dem Matthäus-Evangelium in seinem Zusammenhang, erscheint der Obelisk in Kassel als apokalyptisches Monument. Es taucht nämlich in der Rede Jesu vom Weltgericht (Matthäus 25,31-45) auf, die so beginnt: "Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken." Der Messias kommt, um den Trümmerhaufen der Geschichte zu richten, und wer sich nicht um Hungrige, Obdachlose, Kranke und Fremde gekümmert hat, der erhält die "ewige Strafe" (Mt 25,45). Ob der Künstler das so gemeint hat? Oguibe ist nach eigenem Bekunden kein Christ.
Auch das gibt es bei der Documenta: Ein "Craft Beer inspiriert von der Erfahrung afrikanischer Migrant_innen in Europa". Die Linke hat kein Problem damit, Konsumismus und Kritik zu kombinieren. Da hilft nur Adorno: "Ich glaube allerdings, dass Versuche, politischen Protest mit der (...) Unterhaltungsmusik zusammenzubringen, deshalb zum Scheitern verurteilt sind, weil die ganze Sphäre der Unterhaltungsmusik, auch wo sie irgendwie modernistisch sich aufputzt, so mit dem Warencharakter, mit dem Amusement, mit dem Schielen nach dem Konsum verbunden ist, dass Versuche, dem eine veränderte Funktion zu geben, ganz äußerlich bleiben." Man muss bloß den Begriff "Unterhaltungsmusik" durch "Bier" ersetzen.