Montag, 20. August 2018

Zeitgeist von Gestern

Demnächst mit Kittelschürze?
Maria braucht ein neues Kleid. Anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der Aufnahme des Aachener Doms in die Welterbeliste der UNESCO hat das Domkapitel einen Künstlerwettbewerb ausgelobt. Wie viele Gnadenbilder, so wird auch die Aachener Madonna im Laufe des Jahres rund sechszehn mal umgezogen: Sie erhält jeweils zu Festen und Kirchenjahr passende Gewänder. Das Bekleiden von Bildern ist in Europa seit dem Hochmittelalter üblich. 43 Kleider, dazu Ketten, Kronen und Broschen hat man in Aachen im Fundus. Die älteste Textilie in Aachen stammt aus dem 17. Jahrhundert. Doch nun soll etwas Neues her. In der Wettbewerbsausschreibung heißt es: „Anders als bei den bisherigen Gewändern soll es sich nicht um ein Festtagsgewand handeln. Maria als Frau aus dem Volk ist für viele Gläubige Identifikationsfigur und Vermittlerin zwischen Gott und den Menschen. Sie soll aus ihrer herrscherlichen Sphäre, in die sie mit ihren kostbaren Gewändern, Kronen, Zeptern und Schmuckstücken gehoben ist, herausgenommen und als Mensch und Gegenüber gezeigt werden.“
Vor allem durch eine eher locker-banale Fernsehberichterstattung des Westdeutschen Rundfunks aufgeschreckt, begannen einige Herrschaften aus Aachen, Unterschriften gegen die Ausschreibung zu sammeln. Sie fürchten, dass die im Dom verehrte „Kaiserin von Aachen“ durch das Vorhaben „herabgesetzt, verballhornt, sexualisiert und verunglimpft“ werden könnte. Doch dass Maria zukünfig mit bauchfreiem Oberteil oder in Badekleidung zu sehen sein könnte, wie der WDR-Beitrag nahelegt und die Unterschriftensammler befürchten, lässt sich ausschließen. Denn die 1656 geschnitzte spätgotische Marienfigur besitzt ein bodenlanges Gewand mit schwungvollem Faltenwurf. In Südeuropa befindet sich unter den bekleideten Heiligenfiguren oft nur ein Gestell aus Holz oder Metall. Die Figur hat keinen Körper. Eine Enthüllung würde nur die dahinter befindliche Leere offenbaren. In Aachen käme unter dem Gewand ein neues Gewand zum Vorschein.
Das Problem bei der Aachener Ausschreibung ist ein anderes. Mit der Formulierung „Frau aus dem Volk“ offenbaren die Verantwortlichen etwas von ihrem geistigen Hintergrund. Für das Gebet- und Gesangbuch „Gotteslob“ dichtete Friedrich Dörr 1972 ein barockes Marienlied um: „Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn“. Als dritte Strophe seiner Neufassung reimte Dörr damals: „Du Frau aus dem Volke, von Gott ausersehn, dem Heiland auf Erden zur Seite zu stehn, kennst Arbeit und Sorge ums tägliche Brot, die Mühsal des Lebens in Armut und Not.“ Aus der innig geliebten himmlischen Jungfrau des Barockliedes wurde Maria, die Hausfrau, die sich die Hände an der Kittelschürze abwischt und dem Heiland rasch noch ein Butterbrot für die Arbeit schmiert. Das war schon Anfang der Siebzigerjahre altmodisch. Und nun, fast fünfzig Jahre später, soll Maria wieder einmal vom Sockel gehoben werden, damit man sie endlich als „Mensch und Gegenüber“ wahrnehmen kann. Ein „modernes Gewand für den Alltag“ soll es laut der Ausschreibung sein. Nichts deutet darauf hin, dass die Domherren hier etwas im Sinn hatten, das sexy ist (auch wenn sexyness heute ziemlich alltäglich ist). Aber woher weiß man eigentlich, dass diejenigen, die im goldenen Halbdunkel des Doms ihr Kerzchen anzünden, die Muttergottes lieber „alltäglich“ sehen wollen? Maria – eine von uns? Warum sollte man vor einer von uns Kerzen anzünden? Außerdem sind Schmuck und kostbare Gewänder gerade ziemlich modern. Der kirchliche Prunk vergangener Jahrhunderte inspiriert Modedesigner zu irren Kreationen, wie sie dieses Jahr etwa bei der „Met Gala“ im New Yorker Museum of Art zu sehen waren. Popstar Rihanna trug ein über und über mit Edelsteinen besetzes Outfit, entworfen von John Galliano, das an die Gewänder eines Papstes erinnerte – inklusive Mitra.
Kleidung ist Kommunikation. Vor dem Hintergrund der Feudalgesellschaft weist die prächtige Tracht der Aachener Madonna sie als Herrscherin aus. Wie ein Blick in die „Gala“ oder die „Bunte“ beweist, verstehen aber auch Bürger liberaler Demokratien diese Symbolik. Die Gewänder sind darüber hinaus an die Farben des liturgischen Jahres und seiner Feste angelehnt und gemahnen damit auch an sakrale Kleidung und ihre reichhaltige Symbolik. Und schließlich symbolisieren die Gewänder Mariens auch das "Gnadenkleid" derjenigen, die "voll der Gnaden" ist (mehr dazu in der nächsten Herder Korrespondenz). Maria in Alltagskleidung: Das ist Zeitgeist von Gestern.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen